Kleine Baustilkunde

Was ist an dem Stadthaus eigentlich Jugendstil? Ist angepriesene Villa wirklich klassizistisch? Was ordnet man dem Heimatstil zu? Und was meint das Inserat mit Landhausstil? Ein Überblick über die gängigsten Begriffe in unserer kleinen Baustilkunde, Teil 1: traditionelle Baustile bis ins frühe 20. Jahrhundert.

 

Baustile von der Antike bis zum Mittelalter (Antike, Romanik, Gotik) kennt man als touristische Sehenswürdigkeiten, spielen im Immobiliengeschäft hingegen kaum eine Rolle. Eher noch begegnet man Verweisen an Renaissance, Barock und Klassizismus. Die Grenzen sind fliessend und nicht immer offensichtlich. Es empfiehlt sich eine Orientierung am Baujahr. Im Folgenden eine grob vereinfachte Übersicht.

Renaissance (ca. 1400–1600)

"Renaissance" steht für "Wiedergeburt" (eigentlich eher: "Wiederentdeckung") der Kultur der alten Griechen und Römer. Stadtrepubliken, Handelshäuser, der Adel treten in Konkurrenz zur Kirche, deren Einfluss abnimmt. Die Architektur wird wissenschaftlicher. Die Ästhetik legt Wert auf symmetrische Grundrisse und Fassaden, geometrische Grundformen. Merkmale sind unter anderem: Säulen, Pilaster, Kapitelle, Dreiecksgiebel, Rundbögen, Kuppeln.

Barock und Rokoko (ca. 1600–1750)

Im Zeichen der Gegenreformation wird die Grösse von Macht und Glauben möglichst dramatisch und lebhaft inszeniert. Das Wort "barocco" bedeutet "unregelmässig" – als Eselsbrücke kann man das auf die fast chaotische Ansammlung von Figuren und Verzierungen beziehen. Kaum gerade Linien, stattdessen ineinander verwobene Rundungen, das Spiel mit Licht und Schatten; oft überschwängliche Extravaganz, viele Putten, Stuckaturen, farbiger Marmor und Vergoldungen sind weitere Merkmale.

Klassizismus (ca. 1750–1850)

Man orientiert sich wieder stärker an der klassischen Antike, etwa griechische oder römische Tempel. Die Bauwerke werden gradliniger, klarer, geometrischer. Symmetrie ist ein Kernelement, die Bauwerke wirken wuchtig, massiv, streng. Ornamente sind schlichter geworden und beziehen sich oft auf die antike Mythologie. Dominierend sind tempelartige Säulenreihen mit Dreiecksgiebeln.

Historismus: die "Neos" (ca. 1830–1900)

Der Oberbegriff Historismus fasst eine Phase vom 19. bis anfangs 20. Jahrhundert zusammen, in der sich die Architektur vor allem an den oben erwähnten Epochen orientierte. Die Unterarten tragen demzufolge gern ein "Neo-" als Vorsilbe: Neorenaissance, Neobarock, Neoklassizismus etc. Im Unterschied zum Original wurden die Kopien zeitgleich gebaut, die Stile manchmal sogar im gleichen Gebäude gemischt ("Stilpluralismus"). Allerdings galten je nach Funktion gewisse Präferenzen: Neorenaissance war beliebt für Banken oder Bürgerresidenzen, Neobarock für Opernhäuser und Theater, Neoklassizismus für Regierungs- und Verwaltungsgebäude. Generell gelangen solche Bauten natürlich selten auf den offenen Immobilienmarkt – und wenn, dann als absolutes Prestige-Objekt.

Repräsentation war (fast) alles: Die Fassaden und Grösse entsprachen dem Reichtum und Einfluss der Bauherren. In Wohnhäusern und Villen spiegelt sich oft in der Gebäudestruktur selbst die soziale Stellung der Bewohner: Die Bel Etage (Hochparterre oder 1. Obergeschoss) mit hellen, hohen Räumen und Stuckverzierungen für die Hausherren, unter niedrigen Decken und Dachschrägen das Mansarden- oder Attikageschoss für die Bediensteten.

Reformstil oder Reformarchitektur

Gemeint ist die Reform des Historismus – siehe oben. Während Historismus auf weit zurückliegende Epochen zurückgreift, und meist solche, die ihren Ursprung in anderen geografischen Regionen hatten (Italien, Griechenland), nimmt der Reformstil die traditionellen Bauweisen und Materialien der eigenen Region auf (oft auch nur andeutungsweise). Als Vorbild dienten meist Bürger- und Bauernhäuser aus dem 18. Jahrhundert oder wenig früher. Diesem Ansatz folgte auch der Heimatstil.

Heimatstil oder Heimatschutzarchitektur

Der Heimatstil bezeichnet eine Architekturströmung ab ca. 1870, die sich an regionaltypische Bauweisen anlehnte. In der Schweiz steht der Begriff auch für das, was man ab dem 20. Jahrhundert in Deutschland Heimatschutzarchitektur nennt. In der ersten Phase kamen oft recht verspielt wirkende Erker und Türmchen zum Einsatz. Später lag der Fokus in erster Linie auf der "harmonischen Einbettung" in das von traditioneller Architektur geprägte Ortsbild. Entsprechend beträchtlich sind die regionalen Unterschiede. Chalet-Stil Zum Heimatstil zählt man besonders in der Schweiz auch den Chalet-Stil. Obwohl eigentlich eher in den Alpen beheimatet, wurde bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch im Mittelland des Öfteren im Chalet-Stil gebaut, sogar mitten in Grossstädten – was als Ausdruck einer nostalgischen Sehnsucht nach Ursprünglichkeit deuten lässt: der "heilen Bergwelt", für die Schweiz ein starkes, identitätsstiftendes Symbol für Heimat.

Vom Landhaus zum "Landhaustil"

Der Landhausstil ist kein architekturhistorischer Begriff. Dennoch beschreibt "Landhausstil" (im englischsprachigen Raum: Cottage Style) im Bereich der Immobilienvermarktung einen klar eingrenzbaren Haustyp. Ursprünglich bezeichnete ein Landhaus meist einen Zweitwohnsitz wohlhabender Städter auf dem Land, genutzt für die "Sommerfrische". In der Industrialisierung lebten Gutbetuchte so das nostalgische Ideal "Zurück zur Natur" aus. Mit zunehmender Urbanisierung und schnelleren Verkehrsmitteln entwickelten sich daraus ganzjährig bewohnbare Hauptdomizile mit allem damals üblichen Komfort bis hin zu eigentlichen Villen im Landhausstil. Heute verstehen wir unter Landhaus primär ein freistehendes Haus mit Garten, vorzugsweise an ländlicher Lage (mindestens aber naturnah und ruhig gelegen in einem besseren Vorort), welches bestimmte Stilmerkmale aufweist. Ein Schräg- oder Giebeldach ist ein Muss. Traditionelle Bestandteile wie Sprossenfenster, reichlich Holz (Zierleisten und Täfer, Tür-/Fensterrahmen, Decken, schaffen das typische bodenständige Ambiente. Im obligaten Cheminée findet man die romantisierte, rustikale Gemütlichkeit wieder. Wichtig ist die Verbindung zum Garten – heute gerne möglichst direkt und ebenerdig. Aber: grossflächige, raumhohe Schiebe-Fensterfronten wirken hier wie ein Fremdkörper. Der Landhausstil lebt von filigranen Linien und eher kleinteiligen Elementen.

Jugendstil (Secessionsstil, Art-nouveau)

Der Jugendstil war ab 1896 bis etwa zum Ersten Weltkrieg eine Gegenbewegung zur rigiden, stark vergangenheitsbezogenen Ästhetik des Historismus, wollte aber auch Akzente setzen gegen die aufkommende industrielle Massenproduktion, die als "lieblos" empfunden wurde. Der bei uns bekannte Name geht zurück auf die Münchener Kulturzeitschrift "Jugend" und ist andernorts auch bekannt als Secessionsstil (Österreich), Art-nouveau (französisch, englisch) und der Weiterentwicklung Art déco.

Merkmale am Bau sind dekorativ geschwungene Linien und grossflächige Ornamente mit meist organischen Motiven und Formen, also primär Blumen und Pflanzen. Neu darf die Raumfunktion den Grundriss mitbestimmen: Die Unterordnung der Funktion einer strengen Symmetrie ist passé. Neue Materialien wie Beton und Eisen kommt vermehrt zum Einsatz.

Der Jugendstil verstand sich als moderner Stil der damaligen Zeit. Er steht somit bereits an der Schnittstelle zu den "zukunftsgerichteten" Baustilen ab der Moderne, welche wir in einem späteren Newsletter behandeln werden – die "Kleine Baustilkunde, Teil 2"